Die Literatur der kommenden Tage
Wer hat heute noch die Zeit, ein ganzes Buch zu lesen? Niemand. Was kann man da nebenbei machen? Gar nichts. Und es dauert. Es dauert! Stun-den-lang. Wenn Lesen einen Ladebalken hätte, würde man denken, der Computer ist abgestürzt.
Niemand hat mehr die Zeit, ein Buch zu lesen. Im Grunde hat auch niemand die Zeit, ein Buch zu schreiben. Vom Bücherschreiben kann kein Mensch leben, außer es ist ein Bestseller. Aber die meisten Bücher sind keine Bestseller. Die meisten Bücher werden überhaupt nie gelesen. Weil sie niemand kauft. Sie werden gedruckt und vernichtet. Das ist es, was einem Durchschnittsbuch blüht; schade um das Papier.
Hm. Leser*innen haben keine Zeit, Bücher zu lesen. Autor*innen können sich das Bücherschreiben nicht mehr leisten. Schon sorgen sich die Verleger*innen. Kritiker*innen raufen sich die Haare: Für wen rezensieren sie, wenn niemand liest? Und Deutschlehrer*innen wissen, dass schon Elfchen zu komplex sein können.
Man sieht: Die Zeit ist reif, das Publikum bereit und die Technik ist am Start für die Literatur der kommenden Tage. Noch sträuben sich Leser*innen alter Schule und Traditionalisten, aber die Literatur der kommenden Tage wird die Backsteinkultur der Romane hinwegfegen und Schluss machen mit den Endlos-Fortsetzungen. Sie wird der Kürze eine neue Würde erobern. Sie wird eine Feier sein des Tempos der Produktion und der Rezeption. Die Literatur der kommenden Tage wird ohne das Zeitbudget von Autor*innen auskommen, ohne Verleger*innen und ohne Kritiker*innen. Dafür wird sie auf jeden Bildschirm passen, stets verfügbar sein und kostenlos – in der Grundversion.
Werfen wir einen Blick darauf. Früher erschienen Vorab-Interviews mit der Autorin oder dem Autor. Oder seitenlange Werkstattberichte. Aber wer hat Zeit dafür? Niemand. Schluss damit. Die Literatur der kommenden Tage beginnt mit prägnanten Statements auf allen Kanälen.
Vorab-Interview
<#table cell#> |
<#table cell#> |
<#table cell#> |
Wenn diese Statements eine genügend große Reichweite erzielen, wird durch eine gezielte Indiskretion der – eigentlich geheime – Titel durchgestochen.
Abhängig von den Reaktionen wird das Projekt nun entweder abgebrochen oder die nächste Stufe wird gezündet: Die Veröffentlichung der Meinung eines Prominenten, der oder die – überflüssig zu sagen – das Buch nicht gelesen haben muss.
Schließlich wird das Buch veröffentlicht. »Buch« nur noch genannt in Anlehnung an die Literatur der vergangenen Tage, als Bücher noch mehrere hundert Seiten hatten, als Autor*innen zwischen Vor- und Nachsatzpapier machen konnten, was sie wollten, und als Leser noch wussten, was das Kapitalband ist. »Buch« ist der Marketing-Ausdruck, die Branche selbst spricht nur noch von Content.
Wenn der Content nicht die gewünschte Verbreitung findet, kann er verändert werden, bis die Leserzahlen in die kalkulierte Höhe schnellen. Schließlich erscheinen die ersten Besprechungen, deren Länge dem Umfang des Buches natürlich angemessen ist. Die ausführlichsten lauten etwa so:
All dies geschieht im Zeitraum einer Woche. So werden statt zweier Buchmessen pro Jahr nun jedes Jahr 52 Buchmessen möglich. Endlich werden neben Leipzig und Frankfurt auch Neustadt an der Orla und Großenkneten ihre eigene Buchmesse abhalten können.
Die Literatur der kommenden Tage wird kommen. Wem das nicht gefällt, der hat für eine historische Sekunde noch die Gelegenheit, in einen Buchladen zu gehen, ein Buch aus Pappe und Papier zu erwerben, ziegelsteinschwer oder federleicht, geschrieben von echten Autor*innen, oft gut lektoriert und manchmal sogar mit Liebe verlegt. Obwohl schon heute keiner mehr die Zeit hat.